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Wir dürfen nicht hinnehmen, dass Juden zu Sündenböcken gemacht werden

23.01.2021 - Interview

Namensartikel von Außenminister Heiko Maas, erschienen in der Zeitung WELT und bei CNN (auf englisch).

„Durch reichsweit gültiges Gesetz erlauben wir allen Stadträten, dass Juden in den Stadtrat berufen werden.“ So beantwortete der römische Kaiser Konstantin im Jahr 321 eine Eingabe der Stadtoberen von Köln, die sich in dieser Frage an Rom gewandt hatten. Der Briefwechsel ist das früheste schriftliche Zeugnis für jüdisches Leben in Deutschland.

Seit mindestens 1.700 Jahren leben Jüdinnen und Juden im deutschsprachigen Raum. Und was wäre unsere Philosophie ohne die Gedanken Moses Mendelssohns oder Hannah Arendts? Was die Naturwissenschaft ohne Albert Einstein? Und wie viel ärmer wäre unser Leben ohne die Musik Gustav Mahlers, die Poesie Else Lasker-Schülers oder die Erzählungen eines Heinrich Heine oder Franz Kafka? Es ist gut, wenn wir uns in diesem Jubiläumsjahr bewusst machen, wie tief unsere jüdischen Wurzeln reichen, wie sehr sie uns bis heute prägen. Und wir können uns glücklich schätzen, dass heute wieder rund 200.000 jüdische Bürgerinnen und Bürger Teil der deutschen Gesellschaft sind.

Doch die 1.700-jährige Geschichte des Judentums in Deutschland lässt sich leider nicht erzählen, ohne auch über Verfolgung, Völkermord und Judenhass zu sprechen. Dabei verbirgt sich die Fratze des Antisemitismus hinter immer neuen Masken. Das zeigen die wirren Verschwörungstheorien, die in der Corona-Pandemie immer abstrusere Blüten treiben. Wer sich auf Demonstrationen gelbe Judensterne anheftet, der ist kein besorgter Bürger. Sondern ein Antisemit. Und wer Seite an Seite mit Rechtsradikalen Schilder mit der Aufschrift „Impfen macht frei“ durch unsere Straßen trägt oder mit einem „Camp Auschwitz“-Shirt das US-Kapitol stürmt, der denkt nicht nur völlig verquer. Der verhöhnt die Opfer des Nationalsozialismus, verharmlost dessen menschenverachtende Brutalität und zerstört grundlegender zivilisatorische Werte, die für unser Zusammenleben, unsere Demokratie von entscheidender Bedeutung sind.

Dies klar zu benennen ist die Pflicht aller Demokratinnen und Demokraten. Als Vorsitz der Internationalen Allianz zum Holocaustgedenken (IHRA) will Deutschland daher den Kampf gegen solche gefährlichen Lügen, gegen die Verdrehung von Fakten und gegen die Trivialisierung des Holocaust auch weltweit vorantreiben. Dazu haben wir eine Globale Task Force gegen Holocaustverfälschung ins Leben gerufen, um zusammen mit internationalen Partnern diese universellen Werte zu verteidigen. Diese Woche haben uns führende internationale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre Empfehlungen vorgelegt. Sie zeigen: Es besteht dringender Handlungsbedarf.

Erstens: Die digitale Natur des gegenwärtigen Antisemitismus macht ihn grenzenlos. Deshalb müssen wir mehr denn je international abgestimmt dagegen vorgehen. Die Abgrenzung zwischen Meinungsfreiheit und Hassrede, zwischen Unwissen und bewusster Verzerrung von Fakten mag nicht immer leicht zu ziehen sein. Umso wichtiger ist es, dass wir international ein klares Verständnis entwickeln, was wir unter Holocaustverfälschung verstehen und wie wir dagegen vorgehen. Daran arbeiten wir mit unseren Partnern in der IHRA, der EU, den Vereinten Nationen, im Europarat und in der OSZE. Doch auch die Innenbehörden sind gefordert. Eine aktuelle Studie zeigt, wie eng sich Rechtsterroristen und Verschwörungstheoretiker schon heute online vernetzen. Und mindestens genauso eng vernetzt müssen unsere Sicherheitsbehörden agieren.

Zweitens: Bildung ist das beste Mittel gegen Vorurteile und historisches Halbwissen. Während unseres Vorsitzes haben wir Empfehlungen der IHRA zum Lernen und Lehren breit an Schulen und anderen Bildungseinrichtungen in Deutschland verteilt. Bereits 2019 haben wir das Europäische Netzwerk zum Thema „Bildung gegen Antisemitismus“ ins Leben gerufen, das gegen antisemitische Stereotype ankämpft. Doch die Frage, wie man Holocaustverfälschung erkennt, was dagegen zu tun ist, gehört fest in den Lehrplänen unserer Schulen und Universitäten und in den Curricula unserer Polizei- und Justizausbildung verankert.

Drittens: Gedenkstätten, Museen und Bildungseinrichtungen, die sich mit dem Holocaust beschäftigen, brauchen verlässliche politische, aber auch finanzielle Unterstützung. Letztes Jahr haben wir unsere Zusagen für die Gedenkstätten Auschwitz-Birkenau und Yad Vashem in Jerusalem auf Jahre hinaus gesichert. Und Deutschland darf auch in der Corona-Krise keinen Zweifel daran lassen, dass wir zu unserer besonderen Verantwortung stehen.

Viertens: Wir müssen endlich Judenhass und Hetze im Internet in den Griff kriegen. Als Vorsitz des Europarats haben wir den Schutz der Menschenrechte im Internet und das Thema Hassrede ganz oben auf die Tagesordnung gesetzt. Es ist gut, dass Unternehmen wie Facebook ihre große Verantwortung inzwischen nicht mehr leugnen. Doch während die Lügen von Ex-Präsident Trump über angebliche Wahlfälschungen in den USA von Twitter klar als solche gekennzeichnet wurden, bleiben Lügen über das schlimmste Verbrechen der Menschheit, den Holocaust, viel zu oft unwidersprochen. Der Schlüssel liegt in einer engeren Zusammenarbeit zwischen Plattformbetreibern, wissenschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Organisationen, die am besten Fakten von Falschbehauptungen unterscheiden können. Hier bleibt noch viel zu tun.

Das A und O aber ist eine Gesellschaft, die nicht schweigend hinnimmt, wenn Fakten verdreht, Täter zu Opfern und Jüdinnen und Juden zu Sündenböcken gemacht werden. Mehr Wachsamkeit gegenüber solchen Auswüchsen, mehr Zivilcourage und mehr praktische Solidarität täten uns und unserem Land gut – und dies weit über das Jubiläumsjahr 2021 hinaus.

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